Dienstag, März 19, 2024

Legende vom Hufeisen – Johann Wolfgang von Goethe

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Autor: Johann Wolfgang von Goethe
Werk:
Legende vom Hufeisen/ Legende
Erscheinungsjahr: 1798
Gedichtform: Ballade

Goethe (Bild aus: Wikipedia)

Legende vom Hufeisen

Als noch, verkannt und sehr gering,
unser Herr auf der Erde ging,
und viele Jünger sich zu ihm fanden,
die sehr selten sein Wort verstanden,
liebt‘ er sich gar über die Maßen,
seinen Hof zu halten auf der Straßen,
weil unter des Himmels Angesicht
man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
aus seinem heiligen Munde hören;
besonders durch Gleichnis und Exempel
macht‘ er einen jeden Markt zum Tempel.

So schlendert‘ er in Geistes Ruh‘
mit ihnen einst einem Städtchen zu,
sah etwas blinken auf der Straß‘,
das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!“
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
er hatte soeben im Gehen geträumt,
so was vom Regiment der Welt,
was einem jeden wohlgefällt:
Denn im Kopf hat das keine Schranken;
das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
hätte müssen Kron‘ und Zepter sein;
aber wie sollt‘ er seinen Rücken
nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
und tut, als hätt‘ er’s nicht gehört.

Der Herr nach seiner Langmut drauf
hebt selber das Hufeisen auf
und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
geht er vor eines Schmiedes Tür,
nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
kauft ihrer, so wenig oder so viel,
als man für einen Dreier geben will,
die er sodann nach seiner Art
ruhig im Ärmel aufbewahrt.

Nun ging’s zum andern Tor hinaus,
durch Wies‘ und Felder ohne Haus;
auch war der Weg von Bäumen bloß,
die Sonne schien, die Hitz‘ war groß,
so daß man viel an solcher Stätt‘
für einen Trunk Wasser gegeben hätt‘.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
als wenn es ein goldner Apfel wär‘;
das Beerlein schmeckte seinem Gaum!
Der Herr nach einem kleinen Raum
ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
„Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
hättst du’s bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding‘ wenig acht’t,
sich um geringere Mühe macht.“

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2 Kommentare

  1. Guten Tag, ich bekennender Goethe Fan. Seit 40! Jahren forsche ich und habe schon vil Material über ihn, hauptsächlich als Mensch gesammelt. Ganz neu ist mir die Legende vom Hufeisen. Ich bin immer wieder erfreut, etwas Neues über ihn zu finden. Danke!
    Er war fantastisch. Wenn die Jahrhunderte gepasst hätten (1749 – 1949) wäre ich in Weimar , am Frauenplan so lange auf seinem Abtreter gesessen, bis Eckermann mich vorgelassen hätte. Mich hat interessiert, warum gerade er so eine herausragende Persönlichkeit geworden ist. ich habe es herausgefunden. bei bedarf sende ich Ihnen meine Niederschrift zu. Ich habe damit bei Vorträgen mehrfach frenetischen Beifall erzielt. Erst maulen alle – „Klassik“, dann können sie nicht genug davo bekommen. Freundliche Grüße aus Magdeburg sendet Ihnen
    Gerti Kinzel

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