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Autor: Walther von der Vogelweide
Werk: Reichston
Erscheinungsjahr: 1972
Ich saz ûf eime steine
Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine.
dar ûf satzt ich den ellenbogen.
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dahte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben.
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keinez niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot:
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
diu wolte ich gerne in einen schrîn:
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht,
diu zwei enwerden ê gesunt.
Ich horte ein wazzer diezen
Ich horte ein wazzer diezen
und sach die vische fliezen;
ich sach swaz in der welte was,
velt, walt, loup, ror unde gras.
swaz kriuchet unde fliuget
und bein zer erde biuget,
daz sach ich, unde sage iu daz:
der keinez lebet ane haz.
daz wilt und daz gewürme
der stritent starke stürme;
sam tuont die vogel under in,
wan daz si habent einen sin:
si duhten sich ze nihte,
si enschüefen starc gerihte.
si kiesent künege unde reht,
si setzent herre unde kneht.
so we dir, tiuschiu zunge,
wie stet din ordenunge!
daz nu diu mugge ir künec hat,
und daz din ere also zergat!
bekera dich, bekere,
die cirkel sint ze here,
die armen künege dringent dich.
Philippe setze en weisen uf,
und heiz si treten hinder sich!
Ich sach mit minen ougen
Ich sach mit minen ougen
manne und wibe tougen,
daz ich gehorte und gesach
swaz iemen tet, swaz iemen sprach.
ze Rome horte ich liegen
und zwene künege triegen.
da von huop sich der meiste strit
der e was oder iemer sit,
do sich begunden zweien
die pfaffen unde leien.
daz was ein not vor aller not,
lip und sele lac da tot.
die pfaffen striten sere,
doch wart der leien mere.
diu swert diu leiten si dernider,
und griffen zuo der stole wider.
si bienen die si wolten
und niht den si solten.
do storte man diu goteshus.
ich horte verre in einer klus
vil michel ungebaere;
da weinte ein klosenaere,
er klagete gote siniu leit:
„Owe der babest ist ze junc;
hilf, herre, diner kristenheit!“
Übersetzung
Ich saß auf einem Stein
Ich saß auf einem Stein |
und schlug ein Bein über das andere. |
Darauf legte ich den Ellenbogen. |
Ich hatte in meine Hand |
das Kinn und meine eine Wange geschmiegt. |
So dachte ich mit ängstlicher Sorgfalt, |
wie man auf der Welt leben sollte. |
Ich wusste keinen Rat zu geben, |
wie man drei Dinge erwürbe, |
von denen keines zu Schaden komme. |
Zwei sind Ansehen und fahrendes Gut, |
die sich häufig einander schädigen: |
das dritte ist Gottes Gnade, |
die mehr wert als die zwei anderen ist. |
Diese wollte ich gerne in einen Schrein beisammen haben. |
Führwar kann es leider nicht geschehen, |
dass Besitz und Ansehen in der Welt |
noch dazu Gottes Gnade |
zusammen in ein Herz kommen. |
Steg und Weg sind ihnen genommen: |
Treulosigkeit lauert im Hinterhalt, |
Gewalt herrscht auf der Straße, |
Friede und Recht sind sehr wund: |
Die drei haben keinen Schutz, |
bevor die zwei nicht gesund werden. |
Ich hörte einen Fluss rauschen
Ich hörte einen Fluss rauschen |
und sah die Fische schwimmen; |
ich sah alles, was es auf der Welt gab, |
Feld, Wald, Laub, Röhricht und Gras. |
Alles, was kriecht und fliegt |
und die Beine auf die Erde setzt, |
das sah ich und sage Euch folgendes: |
Keines von ihnen lebt ohne Feindschaft. |
Die wilden Tiere und die Kriechtiere, |
die fechten heftige Kämpfe aus; |
ebenso machen es die Vögel untereinander, |
nur daß sie in einem Punkt Vernunft haben: |
sie kämen sichfür nichts vor, |
wenn sie nicht ein starkes Gericht geschaffen hätten. |
Sie wählen Könige und Ordnungen, |
sie bestimmen Herren und Knechte. |
Doch wehe dir, deutsches Volk, |
wie steht es mit deiner Rechtsordnung! |
Dass nun die Mücke ihren König hat, |
und daß deine Würde so zu Grunde geht! |
Kehre um, kehre um, |
die Kronreife sind zu mächtig, |
die kleinen Könige dringen auf dich ein. |
Philipp setzte den Waisen auf, |
und befiehl ihnen zurückzutreten. |
Ich sah mit meinen Augen
Ich sah mit meinen Augen |
der Männer und der Frauen Heimlichkeiten, |
so daß ich alles hörte und erblickte, |
was auch immer einer tat, was auch immer einer sprach. |
In Rom hörte ich lügen |
und wie man zwei Könige betrog. |
Davon erhob sich der heftigste Kampf, |
der jemals war oder je wieder sein wird, |
als sich Pfaffen und Laien |
in zwei Parteien zu spalten begannen. |
Das war ein Bedrängnis vor allen anderen Bedrängnissen: |
Leib und Seele lagen da tot. |
Die Pfaffen kämpften heftig, |
aber die Laien kamen in die Übermacht. |
Da legten sie die Schwerter nieder |
und griffen wieder zu der Stola. |
Sie bannten die, die sie zu bannen wünschten, |
und nicht den, den sie hätten bannen müssen. |
Da zerstörte man die Kirchen. |
Ich hörte fern in einer Klause |
gar großes Wehklagen; |
da weinte ein Klausner, |
er klagte Gott sein Leid: |
„O weh, der Pabst ist zu jung; |
hilf, Herr, deiner Christenheit!“ |